Entscheidungen treffen in der VUCA-Welt
Entscheidungen und Führung gehören zusammen
Klaus ist Leiter eines kleinen Unternehmens, das eine innovative App entwickelt hat. Das Team arbeitet ausgezeichnet zusammen. Mehrere Interessenten haben sich schon gemeldet, um das kleine Unternehmen zu kaufen. Die angebotene Summe ist für Klaus sehr verlockend – aber er wäre dann auf einen Schlag sein Unternehmen los. Soll Klaus sein Unternehmen, auf das er so stolz ist, aufgeben? Und was wird sein Team dazu sagen? Die wären mit einem Schlag ihre Arbeitsplätze los….
Manuela ist eine der Vorstandsdirektorinnen in einem Logistikunternehmen. Die Konkurrenz ist hart – besonders durch ausländische Dienstleister, die den Wettbewerb verschärfen. Nun steht sie vor der Frage, ob das Unternehmen vermehrt in die Entwicklung von All-In-One-Lösungen investieren soll. Dazu müssten erhebliche Geldmittel investiert werden, um Lösungen zu entwickeln. Im letzten Strategiemeeting wurden die Chancen als durchwachsen eingestuft, da man die weitere Entwicklung auf dem Logistiksektor schwer abschätzen kann. Wie soll sie sich entscheiden?
Diese und viele ähnliche Fälle zeigen einen wichtigen Aspekt von Führung: Entscheidungen treffen.
Entscheidungen als Grundphänomen des Mensch-Seins
Entscheidungen zu treffen ist jedoch nicht nur eine Domäne von Führungskräften. Tatsächlich ist unsere ganze menschliche Existenz auf Entscheidungen gegründet. Das liegt daran, dass wir als Menschen prinzipiell “in die Freiheit gestellt” sind, wie dies Martin Heidegger ausdrückt[1]Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1979 (1927).. Zwar ist nicht all unser Handeln immer und in jedem Augenblick frei – jedoch zeigt sich unsere Freiheit gerade dann, wenn wir vor Entscheidungen gestellt sind.
Soll ich diese oder jene Berufsausbildung machen?
Ist es für mich sinnvoll, ein Haus im Grünen zu erwerben?
Ist es wichtiger, einen Abend mit der Familie zu verbringen oder soll ich besser an meinem Projekt arbeiten?
…
Diese Fragen mögen alle recht banal sein – sie können jedoch erhebliche Konsequenzen haben: für mich persönlich und für andere. Gerade die Frage der Konsequenzen einer Entscheidung machen ja Entscheidungen oftmals schwer.
Entscheidungsfalle: “richtige” Entscheidungen finden
Was geschieht eigentlich genau bei Entscheidungen?
Gehe einmal in Gedanken in eine Entscheidungssituation. Wenn du versuchst zu beschreiben, wie der Prozess der Entscheidung abläuft, wirst du bemerken, dass du bei vielen Entscheidungen zunächst einmal in Gedanken die Zukunft vorweg nimmst. Martin Heidegger drückt die so aus, dass wir als Menschen auf Zukunft bezogen sind und in diese Zukunft gewissermaßen “vorlaufen”. In diesem gedanklichen Vorlaufen werden Möglichkeiten des Sein-Könnens erschlossen und dann gewählt.
Indem man als Mensch diese Wahl trifft, entscheidet man sich für eine mögliche Zukunft. Erst indem man diese Zukunft dann lebt, stellt sich heraus, ob die Wahl die “richtige” war.
Wir würden als Menschen natürlich allzu gerne wissen, was nach dieser Entscheidung kommt. Wir suchen nach einer Gewissheit für unsere Entscheidung, die wir eigentlich nur finden können, indem wir die Zukunft wagen.
Wenn wir Entscheidungsprozesse von der psychologischen Seite her betrachten, dann zeigt es sich, dass sich Menschen sehr darin unterscheiden, wie “wagemutig” sie sind.
Management-Entscheidungen der “alten Schule”
Die oben angedeuteten Grundprozesse finden sich auch in Entscheidungssituationen wieder, die wir in der Führung antreffen. Entscheidungen im Management werden vielfach (noch) von Menschen getroffen. Und wie Entscheidungen dann getroffen werden ist eng mit der eigenen Persönlichkeit verknüpft.
Nehmen wir einmal eine Führungskraft, die eher risikoscheu ist. Was zeichnet diese Herangehensweise an Entscheidungsprobleme aus?
- Lange Problemanalyse
- Einbeziehen möglichst vieler Meinungen
- Suche nach ähnlichen Situationen in der Vergangenheit
- Denken in Szenarios
- Vermeiden von Fehlern
- Suche nach der richtigen Entscheidung
Ein großer Vorteil dieser Methode ist die Tiefe der Analyse. Viele Aspekte und Gesichtspunkte der Situation kommen auf den Tisch. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht und die Entscheidung letztlich gar nicht getroffen wird. Oder die Möglichkeiten sind so zahlreich, dass man dann in einen richtigen Lähmungszustand verfällt, der durch die Entscheidung für “irgendetwas” beendet wird.
Der Grund dafür ist, dass diese Methode stark mit der analytischen Gehirnhälfte arbeitet. Dieser Teil unseres Gehirns arbeite sequentiell und hat nur ausschnitthaften Zugang zu Erfahrungen. Zusammenhänge und komplexe Vernetzungen werden nicht erkannt. Im Extremfall wird das Problem zwar analysiert, aber gar nicht in der Tiefe durchdrungen. Viele Führungskräfte die so vorgehen merken das auch und haben das Gefühl, noch nicht alles “richtig verstanden” zu haben.
Daraus kann aber ein fataler Teufelskreis entstehen: wer meint, noch nicht alles “richtig” verstanden hat versucht vielleicht, das Problem noch tiefer zu durchdringen. Die linke Gehirnhälfte arbeitet quasi auf Hochtouren – kann jedoch das Gewünschte nicht liefern.
Überfordert in der VUCA-Welt
Der Begriff VUCA ist ein Akronym für die Begriffe[2]vgl.”Was bedeutet VUCA” von Melanie Vogel;
- VOLATILITÄT (Volatility) – Veränderungen treten heute in einer ungewohnten Heftigkeit und Dynamik auf. Veränderungen geschehen plötzlich und sind oftmals radikal.
- UNSICHERHEIT (Uncertainty) – Veränderungen und die Auswirkungen sind kaum berechenbar. Man fühlt sich überrumpelt. Weil die Prozesse oft schwer zu verstehen sind, wächst das Gefühl der Unsicherheit.
- KOMPLEXITÄT (Complexity) – Es gibt immer weniger einfache Systeme. Globaler Handel, Industrie, Geldpolitik usw. sind vielfältig ineinander verflochten. Einzelne Entscheidungen können ungeahnte Wirkungen entfalten. Auch das individuelle Leben wird mehr und mehr Teil eines komplexen Gesamtzusammenhangs.
- AMBIGUITÄT (Ambiguity) – Es gibt keine einfachen Ursache-Wirkungszusammenhänge mehr. Die Realität erscheint verwirrend, schwer zu durchschauen, oftmals mehrdeutig und unverständlich. Missdeutungen und Fehlinterpretationen nehmen zu.
Diese Begriffe[3]siehe auch WIKIPEDIA: Vuca verdeutlichen aus meiner Sicht sehr klar, warum ein Zugang mit dem analytischen Denken allein nicht ausreichend sein kann, um Entscheidungen zu treffen. Komplexe Systeme lassen sich nur zu einem sehr geringen Teil analysieren.
Aber was dann? Müssen wir vor der Komplexität resignieren? Ist es dann gar nicht möglich, zu Entscheidungen zu kommen, weil ein Manager das Ganze sowieso nicht durchblickt?
Entscheidungen mit gefühltem Wissen
Wir wollen nicht gleich das Kind mit dem Bad ausschütten. In der westlichen Welt haben wir uns vielleicht in den letzten Jahrhunderten zu sehr auf das rationale, analytische Wissen verlassen. Es geht uns offenbar wie dem Schüler in Goethes Faust, der voll stolz verkündet: “wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht.” Zwar haben wir es “bis an die Sterne weit” gebracht, aber das analytische, rationale Wissen ist nur eine Komponente. Es taugt nicht recht, um Komplexität zu verstehen.
Damit das gelänge, müsste der analytische Verstand in der Lage sein, mehrere Aspekte gleichzeitig auf dem Schirm zu haben und eine Vielzahl an Informationen simultan zu verrechnen. Dazu wird jedoch ein anderes System gebraucht – das Selbst.
Fähigkeiten des Selbst-Systems
Kurz zusammengefasst hat das Selbst (oder Extensionsgedächtnis) folgende Fähigkeiten und Eigenschaften[4]vgl. Julius Kuhl; Motivation und Persönlichkeit, Hogrefe, 2001.:
- Das Selbst ist ein ausgedehntes Netzwerk – vergleichbar mit einer riesigen Bibliothek oder einem Museum (Wissenslandkarte).
- Erfahrungen, Emotionen, Werthaltungen, Motive… sind im Selbst auf eine einzigartige Weise organisiert. Das ist im wesentlichen das, was unsere Persönlichkeit ausmacht.
- Alles das, was wir täglich erleben und für uns wichtig ist, wird im Selbst gespeichert, mit früheren Episoden verknüpft und Bestandteil unserer Persönlichkeit (episodisches Gedächtnis).
- Als Netzwerk ist das Selbst in der Lage, auch mit unvollständiger Information zurecht zu kommen.
- Das Selbst arbeitet ganzheitlich und stellt uns gefühltes Wissen zur Verfügung.
- Das Selbst arbeitet am besten in entspannter, gelassener Stimmungslage. Zwar kann das Selbst Stress bis zu einem gewissen Grad gut regulieren – ab einer bestimmten Menge an Stress verliert das Selbst jedoch diese Fähigkeit. Man hat das Gefühl, nicht mehr recht “bei sich” zu sein.
- Das Extensionsgedächtnis kann mehrere Informationen gleichzeitig (parallel) verarbeiten. Gerade in komplexen Situationen benötigen wir das Selbst, um bestmögliche Entscheidungen zu treffen.
- Das Selbst hat eine Hintergrundaufmerksamkeit und spielt uns nützliches Wissen dann ein, wenn es gerade gebraucht wird.
Konsequenz
Aus allen diesen Funktionsmerkmalen zeigt sich, dass das Selbst als einziges psychisches System in der Lage ist, die momentane Situation mit dem eigenen Wissen, Erfahrungen, Werten, Motiven und Emotionen in Einklang zu bringen. Das Ergebnis dieses Abgleichs ist jedoch mehr ein gefühltes Wissen, eine Ahnung oder das sprichwörtliche “Bauchgefühl[5]Gerd Gigerenzer; Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, Goldmann, 2008.”.
Auf diese innere Stimme – die meist recht leise spricht – zu hören, kann gerade in Entscheidungssituationen von Vorteil sein. Der analytische Verstand besitzt diese Integrationsleistung nicht – er soll sie auch nicht haben, denn seine Stärken liegen in der konsequenten Verfolgung eines einmal gefassten Entschlusses. Insofern ist es für Entscheidungsprozesse unabdingbar, dass Verstand und Selbst gut zusammenarbeiten. Nur so kann man die Komplexität hinreichend meistern [6]Mehr Hintergrundinformationen gibt es hier: “Die Geheimnisse deiner Psyche entschlüsselt!“.
Hilfe für Klaus und Manuela
Wie können wir den beiden oben beschriebenen Führungskräften bei ihrer Entscheidung helfen? Wie können sie eine “gute Entscheidung” treffen?
Die Antwort ist einfach: das Selbst nutzen!
Hierzu gibt es 5 Wege, die ich auch mit Klienten im Coaching beschreite:
- Entschleunigung und Druck rausnehmen. Kein Zeitdruck und sich beruhigen. Nur dann kommt man zu sich Selbst.
- Perspektive und Standort wechseln. Das Problem aus unterschiedlichen Blickwinkeln anschauen.
- Optionen erweitern. Hier gilt der Satz von Julius Kuhl: “Ab 3 beginnt die Unendlichkeit”. Solange man noch in der Entweder-Oder-Logik steckt, hat man noch nicht alle Möglichkeiten entdeckt. Andere Menschen einzuladen sich an der Suche nach Optionen zu beteiligen kann eine Hilfe sein. Aber auch Anregungen aus der Kunst können Wege zum Selbst öffnen (hör dir dazu auch die Podcastepisode 21 an, in der Monika Herbstrith-Lappe unter dem Stichwort “Werde der Regisseur deines Erfolgs” über Verbindungen von Theaterkunst mit Führungskunst spricht.
- Die Wertigkeit der Optionen erfühlen. Hier geht es darum, mit dem Körper zu erleben, wie sich die Optionen anfühlen.
- Der gefühlten Entscheidung vertrauen und dann umsetzen.
Entscheidungen aus dem gefühlten Selbst getroffen zu haben ist eine Erfahrung, die das eigene Leben ungemein bereichern kann. Wir sollten daher “Entscheidungsprobleme” als willkommene Gelegenheiten zu persönlichem Selbst-Wachstum verstehen – so verzwickt sie auch im ersten Moment sein können.
Denn das Selbst ist unser weiser Ratgeber – und wer auf diese Stimme hört, bekommt den guten Rat zum Nulltarif!
Liebe Leserin/lieber Leser jetzt interessiert mich deine Meinung:
- Wie gehst du vor, wenn du schwierige Entscheidungen zu treffen hast?
- Wie sind deine Erfahrungen mit dem Bauchgefühl?
Ich freue mich, wenn du gleich jetzt einen Kommentar verfasst!
Hier als Podcast-Episode nachhören
Wie du als Führungskraft gute Entscheidungen triffst
Interview mit Dr. Artinger zum Thema "Entscheidungen"
Anmerkungen und Nachweise
↑1 | Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1979 (1927). |
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↑2 | vgl.”Was bedeutet VUCA” von Melanie Vogel |
↑3 | siehe auch WIKIPEDIA: Vuca |
↑4 | vgl. Julius Kuhl; Motivation und Persönlichkeit, Hogrefe, 2001. |
↑5 | Gerd Gigerenzer; Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, Goldmann, 2008. |
↑6 | Mehr Hintergrundinformationen gibt es hier: “Die Geheimnisse deiner Psyche entschlüsselt!“ |
Danke für den interessanten Artikel!
Ich glaube aber auch, dass es einem leichter fällt Entscheidungen zu treffen, wenn man eine gewisse Sinnhaftigkeit in seiner Arbeit gefunden hat und wenn man das natürlich auch darf. Ich habe einige Chefs kennen gelernt, die keine Entscheidung gut geheißen haben, die nicht von ihnen selbst kam. Die sollten sich vielleicht einmal deinen Blog durchlesen!
Da hast du bestimmt recht! Chefs sollten ihren Mitarbeitenden einen großen Spielraum einräumen (zumindest für die, die das wünschen) und auch Fehler zulassen. Man ist aus meiner Sicht nur dann ein guter Unternehmer, wenn man Risikobereitschaft hat und nicht alles kontrollieren will.
Hallo Gregor, habe grad mal wieder Zeit, mich mit Deiner vielseitigen und für mich
kostenlosen (ja, ja, Danke !) Arbeit zu beschäftigen.
Als ziemlich gerne (oder sag ma mal lieber: irgendwie notgedrungen) Kleinstunternehmer habe ich bei
vielen Entscheidungen leider immer die “Kohle” zu beachten; da nützen mir
Bauchentscheidungen sehr, sehr selten. Großkopferte aber setzen höchstens
ihre Firma
in den Müll, haben aber durch vorherige hohe Anhäufung von “Kohle”, zumindest
längerfristig keinen Hunger. Außer sie waren so unvernünftig und haben viele,
viele private Ratenzahlungen angehäuft. Dann wirds natürlich auch sehr schnell eng.
Lieber analysiere ich ausschließlich, oder ich bin sowieso dazu zu müde, zu
wurschtig oder geistig überfordert.
Oder habe ich Deinen Blog eh völlig falsch verstanden. Du Vorstandvorsitzender !
Hallo Bruno!
Ich freue mich über deinen Kommentar. Mir kam es mit dem Beitrag darauf an, die Bedeutung der intuitiven Entscheidung herauszustellen. Natürlich ist auch der Verstand wichtig! Wenn man z.B. überlegt, ob man eine Investition tätigen soll ist sicher eine Kostenrechnung eine wichtige Grundlage. Ich glaube jedoch nicht, dass Logik und Analyse allein hinreichend ist, um eine qualitativ gute Entscheidung zu treffen. Denn auch in scheinbar rational zu entscheidenden Problemen gibt es viele implizite Randbedingungen, die eben der Verstand allein gar nicht alle auf dem Schirm haben kann (z.B. Übereinstimmung mit den eigenen Werten, Lebenserfahrungen, dem Umfeld etc.). Dazu braucht man dann ein “gelehrtes” Bauchgefühl, Daumenregeln, Hausverstand oder eine Heuristik. Und ich glaube auch du wirst so entscheiden (wenn du in dich hineinhörst….)
Danke Gregor !
Aber diesen sog. impliziten Randbedingungen entsprechend, habe ich dann laufend meine (kleine) Selbständigkeit angepaßt und weiterentwickelt.
Wenn nun aber mein erst 4 Jahre alter Firmenwagen (ich fahr privat nur Radl)
plötzlich innerhalb von 10 Tagen (ohne Unfall) lauter Reperaturzeiten und 4000 € erfordert, aber Mercedes nicht mal auf 2 Mailanfragen bis heute antwortet, dann helfen fürs “Bauchgefühl” nur zwei halbe Bier. Großkopferte hätten von vornherein wesentlich andere Wege und Mittel zur Problemabwehr.
Na ja, auch Du holst Dir wohl viel lieber größeres Honorar dort.
Die wirklich Kleinen (m.E. jedoch sehr, sehr Wichtigen) müssen immer nur
ums Überleben kämpfen.
Prost !
Bruno